Künstliche Intelligenz unterstützt medizinische Prognosen Algorithmus soll Risiko der Sterblichkeit vorhersagen
In Krankenhäusern werden eine Vielzahl von medizinischen Daten erhoben, doch ob eine Krankheit zum Tod führt, sehen die Ärzte oft erst dann, wenn es zu spät ist. Deshalb hat ein internationales Team um Stefan Bauer vom Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme einen Algorithmus entwickelt, der die individuelle Sterblichkeit vorhersagen soll.
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Bei Covid-19 etwa sind ein hohes Alter und Vorerkrankungen relevante Risikofaktoren für eine ernsthafte Erkrankung. Es sind aber längst nicht die einzigen. Auch die Sauerstoffsättigung, die Zahl der weißen Blutkörperchen oder der Kreatinin-Wert gehören dazu. „Aber selbst erfahrene Mediziner können in diesen Parametern nicht früh genug eindeutige Muster für einen tödlichen Verlauf erkennen, um eventuell noch die Therapie anzupassen“, erläutert Stefan Bauer, Forschungsleiter am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme in Tübingen.
Vor diesem Hintergrund hat Bauer gemeinsam mit seinem Forscherteam den Algorithmus Covews, kurz für „Covid-19 Early Warning System“, entwickelt. Der Algorithmus wurde mit den Daten zu Krankheitsverläufen von tausenden Covid-19-Patientinnen und -Patienten trainiert, um die individuelle Sterblichkeit für diese Erkrankung vorhersagen zu können. Dazu haben die Forscher 33.000 anonymisierte Datensätze aus einer Kohorte namens Optum genutzt, die die Daten von Patientinnen und Patienten in verschiedenen Krankenhäusern der USA erfasst.
Muster erkennen
Die Wissenschaftler fütterten den Algorithmus also mit Information darüber, wie sich routinemäßig erhobene Gesundheitsparameter einer Patientin oder eines Patienten im Krankheitsverlauf entwickelten, und ob die Personen an Covid-19 starben oder nicht. Auf diese Weise sollte der Algorithmus lernen, in den Datensätzen Muster zu erkennen, die auf ein hohes Sterblichkeitsrisiko hinweisen.
Um festzustellen, wie treffsicher der Algorithmus dieses Risiko einschätzt, hat das Forscherteam an etwa 14.000 weiteren Datensätzen aus der Optum-Kohorte getestet. „Unser Algorithmus prognostiziert das Sterblichkeitsrisiko aber nicht nur mit Datensätzen aus dieser Kohorte mit hoher Sicherheit, sondern auch mit Daten aus anderen Krankenhäusern, die nicht genau der gleichen Verteilung folgen“, ergänzt Bauer. Das zeigten die Forscher, indem sie Covews an Daten des globalen Gesundheitsnetzwerks TriNetX erprobten, das etwa 5.000 US-amerikanische, australische, indische und malayische Patientinnen und Patienten mit einem positiven Corona-Test enthält. Auch bei diesen Testfällen aus Krankenhäusern in unterschiedlichen Weltregionen habe der Algorithmus das Sterblichkeitsrisiko sehr sensitiv und spezifisch vorausgesagt.
„Covews liest aus den medizinischen Daten bis zu acht Tage im Vorhinein, wenn ein Patient zu sterben droht, und zwar mit einer Sensitivität von mehr als 95 Prozent. Das heißt, der Algorithmus erkennt bei 95 von 100 Menschen, dass sie sterben werden, wenn nicht Maßnahmen getroffen werden, um das zu verhindern“, erklären die Forscher. Zugleich arbeite der Algorithmus bei einer Vorhersage von acht Tagen mit einer Spezifität von knapp 70 Prozent, heißt es. „Das bedeutet, etwa 70 von 100 Menschen, bei denen ein tödlicher Verlauf prognostiziert wird, sterben auch tatsächlich. In rund 30 Fällen gibt der Algorithmus also falschen Alarm“, führen die Forscher aus. Jedoch könne sich der Algorithmus auch darauf trainieren lassen, weniger sensitive, aber spezifischere Prognosen zu erstellen.
„Aber es ist wichtiger, möglichst alle Menschen mit hohem Sterblichkeitsrisiko zu erfassen, als bei einigen fälschlicherweise ein hohes Risiko zu prognostizieren“, betont Stefan Bauer. Möglicherweise würden dann bei mehr Menschen als nötig besondere Therapiemaßnahmen ergriffen, um einen vermeintlichen Tod abzuwenden.
Ausblick
Obwohl Covews zuverlässige Vorhersagen trifft, dürfte es bis zu seinem praktischen Einsatz noch eine Weile dauern. „Bis solche neuen Techniken im Klinikalltag angewendet werden, vergehen oftmals mehrere Jahre“, so Bauer. Das liege unter anderem daran, dass Daten vielen Krankenhäusern nicht strukturiert vorliegen, was die Entwicklung einer geeigneten Software auf Basis des Algorithmus besonders herausfordernd machen würde. Deshalb stellen die Forscher Covews frei zugänglich ins Netz, um die Voraussetzungen zu schaffen, den Algorithmus zügig in die Praxis zu bringen. Laut der Wissenschaftler ist die Anwendung nicht nur für Covid-19-Patienten geeignet. Mit dem entsprechenden Training könnte er auch das Sterblichkeitsrisiko für andere Erkrankungen prognostizieren.
Wie die meisten Vorhersagen mit Methoden des maschinellen Lernens werden die Prognosen von Covews nicht aus Kausalzusammenhängen, sondern aus Korrelationen abgeleitet. Bei Korrelationen kann es sich um einen rein statistischen, also nicht ursächlichen Zusammenhang handeln. Stefan Bauers Team weist zudem auf eine Einschränkung der Covews-Berechnungen hin: Möglicherweise sagt der Algorithmus nicht die Sterblichkeit, sondern den Abbruch der Behandlung voraus. Dann würden die Prognosen nicht nur auf medizinischen Fakten beruhen. „Bei der Entscheidung, eine Therapie einzustellen, spielen nicht nur medizinische Überlegungen eine Rolle“, so Bauer. Auch religiöse, kulturelle oder persönliche Haltungen können Menschen dazu bringen, sich nicht weiter behandeln zu lassen.
So können Menschen generell eine künstliche Beatmung ablehnen oder aus Furcht vor den Langzeitfolgen einer Erkrankung die Rettung ihres Lebens ablehnen. Und oft genug sind es Familienangehörige oder Freunde, die bei solchen Entscheidungen mitsprechen. „Über Therapiemaßnahmen müssen daher immer Ärztinnen oder Ärzte entscheiden“, sagt Stefan Bauer. „Unser Algorithmus kann jedoch Erkenntnisse liefern, die Menschen aus den Daten nicht ableiten können, und die bei medizinischen Entscheidungen helfen können.“
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