„Wir stehen vor einem Paradigmenwechsel in der Versorgung“ Gemeinschaftsprojekt Digitalisierung
Dr. med. Markus Leyck Dieken, Geschäftsführer der gematik, fordert im Interview einen Gesamtkoordinator für komplexe digitale Prozesse und ist sich der Probleme rund um die Telematikinfrastruktur bewusst.
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Wie würden Sie den aktuellen Stand der Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen beschreiben?
Leyck Dieken: Wir stecken immer noch mittendrin in einer Pandemie, die das gesamte Gesundheitswesen an seine Grenzen bringt. Und in eben dieser Zeit haben wir bewiesen, welch ungeheures Potenzial in der Digitalisierung steckt. Das liegt vor allem daran, dass für viele ihr Nutzen so offenbar wurde. Dank des neuen Deutschen Elektronischen Melde- und Informationssystems für den Infektionsschutz (DEMIS), an dem wir gemeinsam mit Partnern beteiligt sind, ist die Meldung eines positiven SARS-CoV2-Befundes an das Robert Koch-Institut heute digital innerhalb nur eines Tages möglich statt vor einigen Monaten noch per Fax in durchschnittlich sieben Tagen! Das hilft, Infektionsketten schneller zu unterbrechen und kann Leben retten.
Hieran sieht man exemplarisch, dass die Zettelwirtschaft endlich verschwindet und einer modernen, vernetzten und sicheren Kommunikationsinfrastruktur Platz macht. Damit das funktioniert, muss die Digitalisierung zu einem Gemeinschaftsprojekt werden.
Laut KBV stehen die Ärzte der Digitalisierung offen gegenüber, sind aber zunehmend enttäuscht angesichts unreifer und wenig praxistauglicher Anwendungen. Was sagen Sie zu diesen Vorwürfen?
Leyck Dieken: Natürlich gibt es aktuell große digitale Herausforderungen, vor denen die Praxen stehen, die derzeit sowieso ein großes Plus an Mehrarbeit zu stemmen haben. Und normal ist auch, dass die Einführung neuer IT-Systeme oder auch nur neuer Tools oftmals mit Unsicherheiten und gelegentlich Skepsis einhergeht. Mit der elektronischen Patientenakte und auch dem eRezept stehen wir vor einem Paradigmenwechsel in der Versorgung. Uns war immer klar, dass das nicht geräuschlos vonstattengehen kann. Schließlich beinhaltet so ein elementarer Wandel auch ein gewisses Loslassen vertrauter Abläufe und Gewohnheiten.
Das eRezept ist bei den jetzt endlich erschienenen Software-Programmen beim Arzt sehr viel einfacher zu bedienen und keineswegs so komplex, wie die Ärzte befürchteten
Allerdings kenne ich es als Arzt selbst und weiß es auch aus den Feedbacks der Ärztinnen und Ärzte, die bereits jetzt Anwendungen wie das eRezept oder den Kommunikationsdienst KIM in ihrer Praxis und der täglichen Anwendung nutzen: Die Vorteile dieser Neuerungen für die Versorgung der Patienten überzeugen schnell –, so dass der vorherige Status quo obsolet erscheint und man dahin auf keinen Fall zurück möchte. Beispielsweise das eRezept ist bei den jetzt endlich erschienenen Software-Programmen beim Arzt sehr viel einfacher zu bedienen und keineswegs so komplex, wie die Ärzte befürchteten. Werden die Anwendungen erst einmal genutzt, ist die Einstellung ihnen gegenüber deutlich positiver.
In Bezug auf die elektronische Gesundheitskarte spricht die KBV von einem Desaster. Welche Ansätze gibt es, um das aktuelle Problem mit den Kartenterminals in den Griff zu bekommen, und bis wann sollen diese umgesetzt werden?
Leyck Dieken: Erst einmal betrifft es nur das Kartenterminal eines Herstellers, und dieser arbeitet mit Hochdruck an einer Lösung, wobei die Fehlerursache nach aktuellem Kenntnisstand durch unterschiedliche Faktoren beeinflusst wird (zum Beispiel die Version der Gesundheitskarte, Kartenterminal, Umwelt-/Wettereinflüsse). Momentan kann es am Kartenterminal zu einem automatischen Restart kommen, oder die Fehlermeldungen „C2C-Authentifizierung“ beziehungsweise „Keine freigeschaltete SMC-B“ werden angezeigt. Nach aktuellem Kenntnisstand liegt das ursächliche Problem an einer elektrostatischen Aufladung der elektronischen Gesundheitskarte eGK G2.1. In unserem Fachportal haben wir Hinweise zusammengefasst, wie die ESD-Problematik verringert oder umgangen werden kann. Da das Problem von verschiedenen Faktoren abhängt, können die im Fachportal genannten Maßnahmen mehr oder weniger erfolgreich in unterschiedlichen Umgebungen sein.
Der KBV-Vorstand betont, dass sich die Ärzte auf die Zulassungen durch die gematik verlassen können müssen. Inwieweit hat die gematik das Vertrauen der Ärzte bereits verspielt?
Leyck Dieken: Wie gesagt, die Fehlerursache ist auf unterschiedliche Faktoren zurückzuführen. Wir als gematik bemühen uns ebenso wie der Hersteller um pragmatische und schnelle Problemlösung. Bei der bis dato meist üblichen Übergabe der Karten an Praxismitarbeiter vor den Corona-Maßnahmen trat diese Problem bekanntlich nicht auf. Aber ja, die Telematik birgt Probleme, weswegen wir sie so schnell wie möglich modernisieren müssen. Wir sind froh, dass die Gesellschafter einer TI 2.0 zugestimmt haben. Auch heute konzipieren wir Produkte bereits neu – am und mit dem Nutzer. Unsere Veranstaltungen „gematik trifft“ und „gematik digital“ machen wir nicht nur für, sondern vor allem auch mit Ärztinnen und Ärzten, um eben genau diesen direkten Dialog zu fördern, Vertrauen aufzubauen, was wir brauchen, um solche Mammutaufgaben gemeinsam angehen und erfolgreich umsetzen zu können.
Ja, die Telematik birgt Probleme, weswegen wir sie so schnell wie möglich modernisieren müssen
Das elektronische Rezept und der TI-Messenger stehen angesichts zu kurzer Testphasen und nicht ausreichender Funktionalität in der Kritik. Wie planen Sie in Zukunft an die Einführung neuer Anwendungen heranzugehen?
Leyck Dieken: Aus unserer Sicht können wir nicht von zu kurzen Testphasen sprechen. Bezüglich des eRezeptes befinden wir uns ja auch noch inmitten selbiger. Was wir klar erkennen: Komplexe digitale Prozesse brauchen einen Gesamt-Koordinator. Wir müssen gemeinsam mit den Gesellschaftern und der Politik Lehren aus diesem Verfahren ziehen. Ein Prozess, bei dem eine Partei nur eine Teilstrecke verantwortet und andere Schritte nicht kontrollieren kann, ist nicht zielführend. In Zukunft werden wir auf Testregionen und Cluster setzen, die Bereitschaft signalisieren, partnerschaftlich an einer besseren Gesundheitsversorgung zu arbeiten.
Wir etablieren mit der Telematikinfrastruktur 2.0 eine zukunftsfähige Arena für digitale Medizin, in der auch die Hersteller und Anbieter ihre Lösungen für eine erfolgreiche Weiterentwicklung von eHealth in Deutschland einbringen können. Dafür braucht es zuverlässige und kompetente Partner, die lösungsorientiert mit uns um das ringen, was für die Patientinnen und Patienten am besten ist und die Ärzte in die Lage versetzt, eine bestmögliche, weil informierte Behandlung durchzuführen. So haben wir es im Übrigen auch mit dem TI-Messenger gehalten, der ebenso mit Nutzern konzipiert und erprobt wurde, und so halten wir es weiterhin mit allem anderen.
Wie geht es mit dem eRezept nun weiter?
Leyck Dieken: Die bundesweite Testphase des eRezepts wurde durch die Gesellschafter einstimmig verlängert, damit Praxen, Apotheken, Krankenkassen und Softwareanbieter noch mehr Erfahrung mit dem eRezept sammeln können. Die Testphase soll genutzt werden, um die Anzahl der Teilnehmenden an den Tests zu erhöhen, Updates aufzuspielen, die nötige Software zu installieren, das Personal zu schulen und die Stabilität des Zusammenwirkens der einzelnen erforderlichen Komponenten intensiv zu prüfen. Die gematik wird die verlängerte Testphase sowie den Rollout-Prozess weiterhin eng begleiten. Für die fortlaufende Testphase wurden Qualitätskriterien definiert. So sollen in dieser Phase unter anderem mindestens 30.000 eRezepte erfolgreich abgerechnet werden. Aus unserer Sicht könnte dies im ersten Halbjahr 2022 erreicht werden. Sobald diese und andere Qualitätskriterien erfüllt sind, soll der flächendeckende Rollout in einem noch festzulegenden Verfahren erfolgen.
Ein Prozess, bei dem eine Partei nur eine Teilstrecke verantwortet und andere Schritte nicht kontrollieren kann, ist nicht zielführend
Der bvitg hat vorgeschlagen, dass die gematik die Gesamtkoordinierung des eRezepts übernehmen soll. Was halten Sie von diesem Vorschlag?
Leyck Dieken: Für eines der größten Digitalisierungsprojekte Europas benötigen wir alle Partner, die gemeinsam an einem Strang ziehen. Darauf hat sich auch die Gesellschafterversammlung einstimmig verständigt. Zukünftig braucht es einen Gesamtkoordinator – da stimme ich dem bvitg zu.
Viele Ärzte monieren den Zwang zur Anbindung an die Telematikinfrastruktur. Warum hat man hier nicht auf eine freiwillige Lösung gesetzt?
Leyck Dieken: Die Errungenschaften und Zukunftsfähigkeit einer digital unterstützten Gesundheitsversorgung und –forschung kommen den Bürgerinnen und Bürgern, den Patientinnen und Patienten zugute. Der Auftrag, der sich daraus für alle ableitet, die an der medizinischen Versorgung beteiligt sind, lässt sich nur mit einer breiten und flächendeckenden Einbindung und Beteiligung realisieren.
Schauen wir uns auf internationaler Ebene um, schauen wir in die Länder, die hierzulande gerne als Leuchttürme bezeichnet werden und die die Effizienz ihres Handelns bereits dokumentieren konnten, wie Dänemark, Estland, aber auch Österreich, wo sich die ELGA ebenfalls anfangs streitbar, aber nunmehr erfolgreich durchsetzte: All diese Beispiele zeigen, dass eine sinnvolle Digitalisierung nur funktioniert, wenn eine große Mehrheit angebunden ist und ein gemeinsames Ziel, nämlich den Patientennutzen, in den Mittelpunkt ihres Handelns stellt.
Das Bundesgesundheitsministerium ist mit 51 Prozent Hauptgesellschafter der gematik. Sollten die anderen Gesellschafter – Ärzte-, Kassen- und Apothekerverbände – nicht ein größeres Mitspracherecht besitzen?
Leyck Dieken: Wir haben den Eindruck eines effektiveren Miteinanders seit der Entscheidung. Wir sehen seit der Übernahme der 51 Prozent deutliche Fortschritte, denn es werden vor allem schnellere Entscheidungen bezüglich der dringend notwendigen und im Übrigen auch von Patientenverbänden und Fachdisziplinen angemahnten Digitalisierungsmaßnahmen getroffen.
100-prozentig einstimmig von allen Gesellschaftern gefällte Beschlüsse, wie etwa der von 2021, die Telematikinfrastruktur in den kommenden Jahren einem Modernisierungsprozess mit einer gemeinschaftlichen Governance zu unterziehen, bestätigen diesen Eindruck.
Das Interview führten Natalie Ziebolz und Susanne Ehneß
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Vom TI-Dashboard bis zum eRezept
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