Projekt SATURN Wie KI bei der Diagnose unklarer Erkrankungen hilft
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Die Diagnose unklarer Erkrankungen ist für Hausärzte äußerst schwierig. Es könnte sich um eine der seltenen Krankheiten handeln, doch wie sind die nächsten Schritte, welche Tests sind durchzuführen? Ein neues Arztportal, das im Projekt SATURN aufgebaut wird, soll die Diagnose künftig erleichtern – und KI spielt dabei eine Hauptrolle.

Das Projekt „Smartes Arztportal für Betroffene mit unklarer Erkrankung“ (SATURN) startete im Januar 2022 zunächst mit einer Anforderungsanalyse; 2023 begann die Implementierung des Portals. Für die Standardisierung der medizinischen Daten wurde ein gemeinsames Datenmodell (Common Data Model, CDM) erarbeitet, das sich am Observational Medical Outcomes Partnership (OMOP) CDM orientiert und durch KlinikexpertInnen evaluiert wird.
Im Interview erläutern Dr. Andreas Jedlitschka und Dr. Julien Siebert vom Fraunhofer Institut für Experimentelles Software Engineering (IESE), wie sie mit Hilfe von KI auch aus wenigen Daten sinnvolle Muster extrahieren wollen und wie die Lösung für die Hausärzte letztlich aussehen soll.
Die Anzahl der seltenen Krankheiten wird unterschiedlich angegeben, mindestens aber mit 6.000 – dafür ein Arztportal zu entwickeln, das klingt nach einer großen Aufgabe. Wie gehen Sie im Projekt dabei vor und welche Ziele haben Sie sich gesetzt?
Siebert: Im Projekt SATURN bauen wir ein Portal auf, das Hausärztinnen und Hausärzte bei der Diagnose seltener oder unklarer Erkrankungen unterstützen soll. Dabei konzentrieren wir uns zunächst auf drei Bereiche: Endokrinologie, Gastroenterologie und Pulmologie. Für die Diagnoseunterstützung untersuchen wir drei KI-Methodenfamilien: fallbasiertes Schließen, regelbasiertes Schließen und Maschinelles Lernen. Wir entwickeln Methoden, die wir mit Fachleuten evaluieren und iterativ anpassen.
Ihr Team am Fraunhofer IESE ist innerhalb des Projekts für die Themen Diagnoseunterstützung durch Machine Learning und regelbasierte Systeme verantwortlich, wo setzen Sie mit Ihren Entwicklungen an und auf welche Daten können Sie sich dabei stützen?
Jedlitschka: Eine große Herausforderung bei Forschungsvorhaben zu seltenen Erkrankungen ist die geringe Datenbasis mit zum Teil nur wenigen hundert Datensätzen. Wir müssen also Verfahren finden, um auch aus diesen wenigen Daten sinnvolle Muster zu extrahieren. Das lässt sich sicher nicht mit einer einzigen Methode lösen, daher werden wir mehrere Verfahren kombinieren. Konkret verfolgen wir im Projekt drei Ansätze oder Entwicklungsstränge: Der erste Ansatz, mit dem wir vor einem Jahr gestartet sind, ist regelbasiert. Hier stützen wir uns auf die bestehenden medizinischen Leitlinien und entwickeln KI-basierte Methoden, um die Inhalte dieser Leitlinien automatisiert zu extrahieren. Zweitens setzen wir Machine-Learning-Algorithmen ein, um aus Falldaten Muster abzuleiten.
Welche Daten nutzen Sie dafür?
Siebert: In erster Linie werden anonymisierte Patienten- und Befunddaten aus den DIZ der Universitätskliniken genutzt. Wir haben die entsprechenden Daten – mit dem jeweiligen Ethikvotum und dem Datenschutzbeauftragten – bei den Unikliniken Frankfurt und Dresden beantragt. Außerdem nutzen wir das Orphanet und andere offene medizinische Datenbanken wie MIMIC.
Jedlitschka: Das ist auch die Datenbasis für den dritten Ansatz, den wir verwenden: das fallbasierte Schließen. Dabei wird jeder Fall für sich betrachtet und es werden Ähnlichkeitsmaße definiert. Auf diesen Vorgängen – Erinnern und Vergleichen – beruht ja auch das Erfahrungswissen der Mediziner. Aber bei sehr seltenen Erkrankungen ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass der Hausarzt oder die Hausärztin schon einmal einen Fall in der eigenen Praxis behandelt hat. Diese Erfahrungsbasis bringt dann unser System ein.
Welche Rolle genau spielt dabei die Künstliche Intelligenz?
Siebert: Wir verwenden sowohl klassische KI-Methoden wie Expertensysteme oder Methoden des Maschinellen Lernens als auch neuartige Ansätze wie Large Language Models (LLM), z.B. ChatGPT. Wir setzen Natural Language Processing (NLP) ein, um die medizinischen Leitlinien automatisiert nach Diagnoseregeln zu durchsuchen. Die KI liest praktisch Leitlinien und lernt daraus, nach welchen Regeln die Diagnosen zu stellen sind. Parallel dazu verfolgen wir weniger automatisierte Ansätze. Zum Beispiel führen wir Interviews mit Ärztinnen und Ärzten, um ihre Denkweise über Diagnosen in Form von Regeln zu formalisieren, die dann in das System integriert werden können.
Das System filtert zunächst anhand der vorhandenen Daten und Befunde die Leitlinien heraus, die in Frage kommen, und daraus wiederum die Tests, die durchgeführt werden müssten. Das heißt, am Ende steht keine fertige Diagnose, sondern eine Liste von Tests. Diese wird der einzelne Mediziner auch nicht alle durchführen, sondern zunächst deren Relevanz bewerten. Also etwa einen Test auswählen, nach dessen Ergebnis bereits ein Großteil der Indikationen ausgeschlossen werden kann.
Auf der nächsten Seite: Einbindung in die Praxisverwaltungssysteme
Ähnlich funktioniert es bei der Analyse von Symptomen in Orphanet. Diese Such- und Filtervorgänge sind an sich Standardverfahren; der große Unterschied, den die KI macht, liegt darin, dass die neuen KI-Sprachmodelle einfach sehr viel besser Texte „verstehen“, auch sehr spezifische medizinische Begriffe.
Beziehen Sie auch die künftigen Anwender, also Ärztinnen und Ärzte mit ein?
Jedlitschka: Ja, zu Beginn des Projekts wurden zunächst die Anforderungen erhoben, also Ärztinnen und Ärzte befragt, wie und unter welchen Bedingungen sie sich die Nutzung unserer Plattform vorstellen können. Aber auch während des Projekts evaluieren wir regelmäßig unsere Entwicklungen. Wir arbeiten empirisch und erheben regelmäßig und systematisch Feedback der Fachexpertinnen und -experten, sei es aus dem Projekt oder darüber hinaus. Aktuell betrifft das die automatisierte Ableitung von Regeln aus den Leitlinien: Da wir damit angefangen haben, sind wir hier schon recht weit. Wir haben die bisherigen Ergebnisse bereits mit den Medizinerinnen und Medizinern diskutiert und sehr gutes Feedback bekommen.
Wie ist es mit der Einbindung in die Praxisverwaltungssysteme?
Jedlitschka:: Der Anspruch ist, dass Daten in den Praxen nicht mehrfach eingegeben werden müssen, es geht also letztlich um Schnittstellen zu und Interoperabilität zu anderen Softwaresystemen. Wir haben auch schon mit den Herstellern von Praxisverwaltungssystemen besprochen, wie eine Lösung für den Datenaustausch aussehen könnte. Wir werden in jedem Fall eine Schnittstelle bereitstellen und öffentlich machen, so dass jeder, der Interesse hat, mit unserem System arbeiten kann.
Über das Projekt SATURN
Im Projekt „Smartes Arztportal für Betroffene mit unklarer Erkrankung“ (SATURN) soll ein Portal aufgebaut werden, das Hausärztinnen und Hausärzte bei der Diagnose seltener oder unklarer Erkrankungen unterstützt. Über den angebundenen SE-Atlas können ExpertInnen der Universitätsmedizin für Seltene Erkrankungen gefunden und kontaktiert werden.
Projektpartner:
- Stabsstelle Medizinische Informationssysteme und Digitalisierung, Universitätsklinikum Frankfurt
- Institut für Allgemeinmedizin, Goethe-Universität Frankfurt
- Institut für Medizininformatik, Goethe-Universität Frankfurt
- Institut für Medizinische Informatik und Biometrie, Technische Universität Dresden
- Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering IESE, Kaiserslautern
Laufzeit: 01/2022 bis 12/2024
Das Projekt wird durch das Bundesministerium für Gesundheit gefördert.
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