Das Stiefkind des Koalitionsvertrags Bilanz zur Digitalpolitik der Bundesregierung

Sarah Gandorfer |

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Die Bundesregierung hat sich am Anfang der Legislaturperiode viel vorgenommen in punkto Digitalisierung. Nicht alles konnte sie umsetzen. Zwar konnte sie auch Pluspunkte sammeln, Kompetenzgerangel behinderte aber den Fortschritt.

Auch künftig hat die Regierung in Berlin digitalpolitisch viel zu tun.
Auch künftig hat die Regierung in Berlin digitalpolitisch viel zu tun.
(Bild: frank peters - stock.adobe.com)

Bald geht die Legislaturperiode der großen Koalition zu Ende. Am 26. September steht die Bundestagswahl an. Die führenden Regierungsköpfe hatten sich einiges vorgenommen, als sie im März 2018 den 175 Seiten dicken Koalitionsvertrag unterzeichneten. Dieser wurde zu großen Teilen Wirklichkeit: Laut Bertelsmann-Stiftung waren im vergangenen November bereits 65 Prozent der Pläne umgesetzt, seither ist dieser Wert noch gestiegen. Insgesamt habe das Regierungsbündnis über 90 Prozent der eigenen Pläne verwirklicht.

Ein Blick auf die 135 im Koalitionsvertrag explizit genannten Vorhaben mit Digitalbezug zeigt, dass 64 vollständig und 47 teilweise umgesetzt wurden. Das entspricht einer Quote von 82 Prozent der Vorhaben. 24 Initiativen (18 %) blieben auf der Strecke. Zu den nicht umgesetzten Vorhaben gehört das Recht jedes Bürgers auf Glasfaserausbau bis 2025. Das bleibe zwar weiterhin das Ziel, heißt es koalitionsintern, doch in ein konkretes Gesetz wurde das Vorhaben nicht gegossen.

Wenig gebracht hat die Änderung des Grundgesetzes, damit der Bund den Schulen künftige sieben Milliarden Euro zu Verfügung stellen kann. Das Geld soll für das digitale Lernen und die Versorgung von Schulen eingesetzt werden. Immer noch scheitert es daran, dass die finanziellen Mittel nicht in ausreichendem Umfang abgerufen werden. Das Problem stellen die bürokratischen Hürden sowie die verkrustete Strukturen im Bildungssystem dar.

Zudem ist es nicht gelungen, einen Nationalen Bildungsrat zu bilden. „Wir brauchen mehr Tempo und weniger Bürokratie“, fordert deshalb Bitkom-Präsident Achim Berg. „Hier ist die Bundesregierung am Widerstand einzelner Länder gescheitert – ein Sinnbild für die digitale Bildungsmisere in unserem Land.“

Pandemie deckt Defizite in der Verwaltung auf

Eine andere digitale Baustelle sind die Digitalisierungsdefizite in der Verwaltung, welche die Corona-Pandemie zahlreich aufgedeckt hat. Um sie zu beheben, müssen Dienstleistungen und Prozesse flächendeckend digitalisiert werden.

Die Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes (OZG) läuft aber nur sehr schleppend. Vom Ziel, Ende kommenden Jahres 575 Verwaltungsleistungen digitalisiert zu haben, sei man weit, weit entfernt, so Berg: „Wir dürfen aber neben dem Ob das Wie nicht vergessen: Die neu entwickelten digitalen Angebote dürfen nicht nur in einzelnen Pilotkommunen oder Ländern bereitstehen. Sie müssen flächendeckend nutzbar sein. Nur abhaken reicht nicht. Das ist eine Aufgabe für die kommende Bundesregierung, vor allem aber auch für die Verantwortlichen in Ländern und Kommunen.“

Gesundheitswesen

Lediglich mit der digitalen Entwicklung im Gesundheitsbereich ist der Verband verhalten zufrieden: Mit der Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) und Gesundheits-Apps auf Rezept wurden laut dem Bitkom entscheidende Weichenstellungen für die Digitalisierung gelegt. Dennoch kritisiert Berg: „Gerade im Gesundheitswesen wurden der Bundesregierung die Grenzen ihres Handelns aufgezeigt. Ohne die Mitwirkung der Länder bewegt sich so gut wie nichts, allerspätestens beim Pförtner des örtlichen Gesundheitsamts ist dann endgültig Schluss.“

Digitalministerium

Zwar besitzt der Bund mit Dorothee Bär eine Staatsministerin für Digitalisierung, allerdings ohne ein eigenes Digitalministerium. Das ist beim Innenministerium aufgehängt. Auf Länderebene, wie in Bayern, gibt es bereits vollwertige Digitalministerien. Da auf Bundesebene verschiedene Ministerien bei der Förderung von Digitalisierung Ansprechpartner sind, hat Bär nur begrenzte Machtbefugnisse. Je nach Thema fallen Digitalthemen in den Bereich von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier oder Verkehrsminister Andreas Scheuer, dessen Haus für digitale Infrastruktur zuständig ist. Das bemängeln neben dem Bitkom auch ITK-Verbände wie Breko und VATM.

Der Bitkom rät deshalb, die Kräfte in einem Digitalministerium zu bündeln. „Wichtig ist, dass dieses Ressort bei digitalpolitischen Kernprojekten komplett die Federführung übernehmen kann“, betont Berg. „Dafür braucht es unter anderem einen Digitalvorbehalt. Das heißt: Analog zum Finanzvorbehalt müssen politische Vorhaben auf ihre Digitalisierungswirkung hin überprüft und im Bedarfsfall angepasst werden.“ Auch die Verantwortung für den Breitbandausbau, die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung, innovative Technologieprojekte und die Leitung des Digitalkabinetts sollte dem Digitalministerium obliegen.

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Die Zuständigkeiten sind nicht nur hierzulande komplex. Die Bundesländer haben wichtige Zuständigkeiten bei zentralen Themen wie Datenschutz oder Medienregulierung. Hinzu kommt die gestiegene Bedeutung der EU als Regulator der Digitalwirtschaft. Deutscher Föderalismus in Kombination mit dem wachsenden Einfluss von Brüssel sorgen für enormen Koordinierungs- und Abstimmungsaufwand.

Als Beispiel ist für das Handeln auf europäischer Ebene ist das EU/US-Privacy-Shield zu nennen. Die Rechtsunsicherheiten für den EU-US-Datentransfer sind nach wie vor groß. Ein neues Privacy Shield ist noch nicht verabschiedet und die Folgen der EuGH-Schrems-II-Entscheidung wirken sich auch auf alle anderen Drittstaatentransfers aus. Positiv ist jedoch, dass die Adäquanzentscheidung für Großbritannien den europäischen Datenaustausch auch nach dem Brexit aufrecht erhält.

Fazit

Immerhin wurde ein Großteil der im Koalitionsvertrag festgelegten Punkte in der Digitalpolitik umgesetzt. An manchen scheitert es wegen bürokratischer Hürden.

So makaber es klingt, die Covid-19-Krise hat als Beschleuniger bei der Digitalisierung gewirkt. Gerade im Schulwesen mussten Projekte schnell umgesetzt werden. „Ein Durchbruch ist in der jetzt endenden Legislaturperiode allerdings nur in einzelnen Bereichen wie dem Gesundheitswesen gelungen“, findet der Bitkom-Präsident. „Die Corona-Pandemie dürfte die Digitalisierung stärker bewegt haben als die Regierungen in Bund und Ländern. Und sie hat dargelegt, dass wir an vielen Stellen drastischen Nachholbedarf haben, insbesondere bei der Digitalisierung der Ämter, Behörden und Schulen.“

Dieser Artikel erschien ursprünglich bei IT-BUSINESS.

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