Virtuelle Studien COVID-19: Auswirkungen des technischen Fortschritts
Mit der Digitalisierung klinischer Studien, dem effizienten Einsatz von Daten und neuer Technologien können die Entwicklung neuer Behandlungsmethoden beschleunigt sowie Zeit und Kosten drastisch reduziert werden. Gleichzeitig schafft dies einen Handlungsspielraum für die Suche nach neuen Therapien.

Die zunehmende Datenauswertung und die Durchführung virtueller Studien führten in den letzten Jahren zu enormen Fortschritten bei seltenen Krankheiten und verschiedenen Krebsarten.
Bei den aktuellen weltweiten Herausforderungen im Gesundheitswesen und einem damit zusammenhängenden 79-prozentigen globalen Rückgang der Neuaufnahme von Patienten in klinischen Studien, gewinnt der Einsatz von Technologien und die strategische Nutzung von Daten für die Arzneimittelentwicklung zunehmend an Bedeutung.
Die traditionelle Arzneimittelentwicklung kann langwierig sein, unvorhersehbar und ist mit enormen Kosten verbunden. Bis ein Medikament auf den Markt kommt, dauert es durchschnittlich bis zu zehn Jahre und fordert Investitionen zwischen zwei und drei Milliarden Euro.
Implementierung virtueller Studien
Mittlerweile können 28 Prozent der klinischen Studien vollständig virtualisiert werden. Dabei werden Daten aus der Ferne erfasst und Patienten der Zeit- und Energieaufwand abgenommen, den sie vorher für die Anreise zum Krankenhaus oder Prüfzentrum aufwenden mussten. Die Datenerfassung aus der Ferne erleichtert die Rekrutierung und Neuaufnahme von Patienten, die bei klinischen Studien ein großes Hindernis darstellen können – insbesondere in Krisenzeiten.
Das Home-Monitoring, also die Verlaufsbeobachtung bei Studienteilnehmern zuhause, öffnet die Studien für Patienten, die mehrere Kilometer entfernt oder in einem anderen Land leben. Anstelle der persönlichen Abholung des Studienmedikaments am klinischen Standort tritt der rückverfolgbare Direktversand über medizinische Kurierdienste in den Vordergrund.
Die Protokolle und Technologien werden darauf angepasst und erweitert, um die lückenlose Versorgung mit Prüfpräparaten aufrecht zu erhalten und sicherzustellen, dass Patienten bei der Selbstverabreichung die notwendigen Anweisungen einhalten. Eine größere Datenmenge führt zu einer Datenvariation, die die Diversität der Patientenpopulation genauer widerspiegelt und auf deren Grundlage fundiertere Entscheidungen zur Arzneimittelentwicklung getroffen werden können.
Automatisierung & Datenerhebung außerhalb der Klinik
Die Erhaltung genauer und konsistenter Daten während der gesamten Dauer der klinischen Studie ist entscheidend für die Arzneimittelzulassung. Durch automatisierte statistische Prüfungen und durch maschinelles Lernen wird die Qualität von klinischen Daten und Labordaten bewertet und kann durch die Früherkennung von Anomalien und Verfahrensabweichungen verbessert werden. Automatisierte Prozesse führen zur Vermeidung doppelter Dateneingaben und zu sofortiger Erkennung von Fehlern.
Mithilfe historischer Daten können Kontrollgruppen ersetzt werden, was Kapazitäten freisetzt und Abbrüche abmildert. Patienten, die vorher ein Placebo oder die Standardtherapie erhielten, können mit dem zu prüfenden Studienmedikament behandelt werden. Das spart Zeit und Kosten und ermöglicht einen schnelleren Zugang zu neuen Medikamenten und optimierten Behandlungen.
Neben der Analyse einer Vielzahl von generierten Daten kann die Technologie auch zur Erweiterung des klinischen Studienprozesses eingesetzt werden. Werden Patienten mit Wearables ausgestattet, bietet dies Einsicht in deren alltägliche Informationen, wie beispielsweise in Schlafmuster und körperliche Aktivitäten. Risikopatienten können sich zum Zweck einer erhöhten Sicherheit zur Nutzung von Frühwarnsystemen oder Gesundheitskarten entscheiden, die behandelnde Ärzte sofort über aktuelle Impfungen oder Allergien informieren.
Mithilfe von Wearables, Sensoren und einer zentralisierten Online-Plattform können COVID-19-Symptome und die Auswirkungen des Virus auf Studien verfolgt werden. Patienten jeder aktiven Studie können sich so aus der Ferne an der Forschung über COVID-19 und an der Erstellung einer Datenbank beteiligen, die den Verlauf der Krankheit analysiert und darauf aufbauend Vorhersagen treffen kann.
Vernetzte tragbare Sensoren fördern auf diese Weise umfassende Dateneinsichten in nicht-klinischen Umgebungen und verbessern die Erfahrung der Patienten, da sie die Besuche im Krankenhaus oder im Prüfzentrum reduzieren können. Dadurch steigt das Engagement der Patienten und die Forscher haben Zugang zu mehr Daten in kürzerer Zeit, die die Patientenberatung hinsichtlich einer verbesserten Versorgung und Behandlung beeinflussen.
Verstärkte Regulierung
Im Bereich der klinischen Forschung gibt es aus guten Gründen zahlreiche Regulierungen. Sogenannte „Good Clinical Practices“ sichern als Qualitätsstandard die ethische und wissenschaftliche Umsetzung der Planung, Durchführung, Dokumentation und Berichterstattung von klinischen Studien, die auch regelmäßig auditiert wird. Für das Home-Monitoring von Patienten gibt es klare Vorgaben des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) oder der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA).
Gesundheitsdaten der Probanden unterliegen einem besonderen Schutz und werden – nach freiwilliger Einwilligung der Patienten – über DSGVO-konforme Informations- und Kommunikationstechnologien erfasst. Die Anbieter von Wearables und Sensoren haben entsprechende Vorkehrungen zu treffen, um Daten sicher zu speichern. Ein Widerruf führt nicht zur Löschung der bereits aufgezeichneten Daten, da dies die Studienergebnisse unbrauchbar machen und zum Verlust von Behandlungs-Genehmigungen führen würde.
Da sich die Technologie ständig weiterentwickelt, passen sich die Vorschriften kontinuierlich an, um die Sicherheit und Compliance-Konformität klinischer Studien zu gewährleisten. Die Sicherheit der Patienten steht dabei an erster Stelle. In den letzten Jahren hat die Zusammenarbeit zwischen Organisationen der Arzneimittelentwicklung und Regulierungsbehörden wie der EMA und der Regulierungsbehörde für Arzneimittel und Gesundheitsprodukte (MHRA) des britischen Gesundheitsministeriums zugenommen.
Viele Organisationen und Behörden, darunter das deutsche Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, stellten aktualisierte Leitlinien für die Durchführung von Studien während der Pandemie zur Verfügung und zeigen sich flexibel und pragmatisch bei Abweichungsprozessen oder raschen Protokolländerungsanfragen, die mit hoher Priorität verfolgt werden. Änderungen im Protokollverhalten, wie die Auswahl eines anderen Studienstandortes mit weniger COVID-19-Fällen oder die notwendige Anpassung zur Gewährleistung der Sicherheit der Patienten, können beispielsweise sofort umgesetzt und anschließend durch die Regulierungsbehörden überprüft werden.
Verstärkte Zusammenarbeit und regulatorische Innovationen sowie digitale Lösungen und technologische Fortschritte unterstützen die Fortsetzung von klinischen Studien sowie die kontrollierte, wirksame und sichere Umsetzung von neuen Behandlungen und ermöglichen einen schnellen Markteintritt.
*Der Autor: Christian Hebenstreit, Senior Vice President & General Manager EMEA bei Medidata
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