Verpasstes Potenzial bei eRezept und Co. Von Herkulesaufgaben und Visionen
Die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen muss optimiert werden. Eine Studie von McKinsey verdeutlicht dies nun einmal mehr und zeigt eindeutigen Handlungsbedarf auf, denn von jährlich rund 42 Milliarden Euro Nutzenpotenzial nimmt der Bund nur einen Bruchteil wahr.

Im Jahr 2018 bezifferte eine Studie von McKinsey und dem Bundesverband Managed Care e.V. (BMC) das Nutzenpotenzial der Digitalisierung im Gesundheitswesen auf rund 34 Milliarden Euro pro Jahr – ein Betrag, der jährlich eingespart werden könnte. Eine Nachfolgestudie aus 2022 zeigt nun: Zwar ist das Potenzial seitdem auf ganze 42 Milliarden gestiegen, realisiert wurden davon bisher jedoch nur ernüchternde 1,4 Milliarden pro Jahr.
Gestiegenes Potenzial
Seit der ersten Erhebung zum Nutzenpotenzial der Digitalisierung im Gesundheitswesen 2018 stieg dieser Wert um 24 Prozent. Grund dafür ist das bisher nur im geringen Maße genutzte Potenzial der Digitalisierung bei gleichzeitig immer weiter steigenden Gesundheitsausgaben.
Der größte Teil des zusätzlichen Potenzials ergibt sich jedoch aus dem Ergebnis neuer Forschungserkenntnissse. Nicht nur konnte bei manchen Technologien seit 2018 eine Effektivitätssteigerung beobachtet werden, auch wurde das Nutzenpotenzial einzelner Technologien 2022 höher bewertet, als das noch bei der ersten Studie der Fall war.
Methodik und Werte
Um das allgemeine Nutzenpotenzial der Digitalisierung im Gesundheitswesen zu evaluieren, wurde zunächst das Potenzial 26 verfügbarer digitaler Gesundheitstechnologien untersucht. Diese Untersuchung erfolgte 2018 zunächst auf Grundlage von mehr als 500 Forschungsdokumenten zu Erfahrungen früherer Projekte und Interviews. 2022 wurden neue Dokumente zu Forschungserkenntnissen eingeschlossen.
Die 26 Technologien lassen sich in sechs Blöcke aufteilen:
- Online-Interaktionen
- Patientenselbstbehandlung
- Patienten-Self-Service
- Arbeitsabläufe/Automatisierung
- Ergebnistransparenz/Entscheidungsunterstützung
- Papierlose Daten
Die Technologien können zudem drei Bereichen zugeordnet werden, in denen digitale Lösungen zum Einsatz kommen und ihren Nutzen entfalten können und die ein unterschiedlich großes Potenzial bergen.
Mit 19,1 Milliarden Euro, also 45 Prozent des Gesamtpotenzials, bietet der Bereich der patientenorientierten digitalen Gesundheit die meisten Möglichkeiten für Einsparungen. Er beinhaltet alle Lösungen, durch die der Patient direkt in das Gesundheitsmanagement einbezogen wird, wie Telekonsultationen oder die Fernüberwachung chronisch Kranker.
Technologien, die Prozesse im Gesundheitswesen für Fachkräfte effektiver gestalten, fallen in den Bereich des eHealth, der 13,1 Milliarden (31 Prozent des Gesamtpotenzials) umfasst. Beispielhaft zu nennen sind hier die eÜberweisung oder klinische Entscheidungsunterstützungen.
Der Bereich der Enabler-Technologien beinhaltet Technologien, die alle Beteiligten und Prozesse im gesamten Ökosystem des Gesundheitswesens unterstützen und bildet mit 9,9 Milliarden Euro, also 23 Prozent des gesamten Potenzials, den geringsten Faktor. Würden alle 26 Technologien vollständig etabliert, könnte das Nutzenpotenzial von 42 Milliarden Euro vollständig erschlossen werden. Das entspräche rund 12 Prozent der gesamten 343 Milliarden Gesundheitsausgaben im Jahr 2021, die durch digitale Technologien adressierbar sind.
Dabei ließen sich, würden nur fünf der 26 Technologien eingeführt, bereits rund 22 Milliarden Euro Nutzen realisieren. Nötig wären dazu die ePA, Telekonsultationen (5,7 Mrd.), die Fernüberwachung chronisch kranker Menschen (4,3 Mrd.), elektronische Terminvereinbarungen (2,5 Mrd.) und Tools für das Management chronisch Erkrankter (2,4 Mrd.).
Was wird genutzt?
Mit insgesamt 60 Prozent entfällt der größte Anteil der verwirklichten 1,4 Milliarden Euro auf den Bereich der digitalen Gesundheit mit Digitallösungen wie der Online-Terminbuchung (0,4 Milliarden Euro) und Telekonsultationen (0,2 bis 0,3 Mrd.).
Der Bereich eHealth hingegen erfährt deutlich weniger Aufmerksamkeit und das besonders im Krankenhaus; die Nutzung künstlicher Intelligenz (KI) stellt hier eine Ausnahme dar. Die Spitze in diesem Bereich bildet jedoch mit 0,1 bis 0,3 Milliarden Euro die mobile Vernetzung des Pflegepersonals, die insbesondere in der Altenpflege und der ambulanten Pflege zum Einsatz kommt.
Auch bei den Enabler-Technologien hakt es bei der Realisierung. Lediglich 0,3 Milliarden Euro konnten hier erschlossen werden – ein Betrag, der sich allein aus der Nutzung der ePA im stationären Bereich ergibt, denn die einheitliche elektronische Patientenakte ist mit einem Potenzial von sieben Milliarden Euro größter Chancen- und Hoffnungsträger. Durch sie könnten Doppeluntersuchungen vermieden und der Austausch von Papierdokumenten umgangen werden, so der Co-Autor der Studie, Stefan Biesdorf.
Dennoch sei das elektronische Pendant zur Patientenakte eine große Herausforderung und vielleicht das größte IT-Projekt, das man angehen könne, so Biesdorf weiter. Ihre Einführung käme einer Herkulesaufgabe gleich. Um Stakeholder von den positiven Effekten zu überzeugen, müsse vor allem auch Zeit investiert werden.
Die Vision: Potenziale effektiv nutzen
Etwa 71 Prozent des Nutzens kann laut Studie bei den Leistungserbringern erzielt werden. Wichtig dafür ist jedoch die Bereitstellung eines zentralen Identitäts- und Konsentmanagements sowie vor allem den Nutzer ins Zentrum zu stellen. Betrachtet man beispielsweise den Fakt, dass Ärzte in der gesetzlichen Gesundheitsversorgung derzeit nur 30 Prozent ihrer Patienten per Telekonsultation behandeln und abrechnen dürfen, wundert es kaum, dass dieses Potenzial nur bedingt genutzt wird und genutzt werden kann.
Jedoch kann das Ziel der 42 Milliarden Euro nur erreicht werden, wenn die Nutzerzahlen steigen, denn jeder vermiedene Krankenhausfall ist eine Einsparung für das System. So können beispielsweise Symptomchecker dabei helfen, zu erkennen, ob ein Krankenhausbesuch wirklich notwendig ist, um Krankenhauseinlieferungen und Doppelbesuche zu reduzieren.
Um die Nutzenpotenziale letztlich zu realisieren, braucht es also Anreize für die Nutzer. Denkbar wäre dies in Form ergebnisabhängiger Erstattungen, die die Nutzung von Anwendungen für Patienten und Leistungserbringer attraktiver gestalten. Ermöglicht würde diese über Nutzungsbewertungen durch Datenfreigaben.
Auch eine geregelte Kostenübernahme könnte sich positiv auswirken. Bereits erfolgreiche Lösungen zeigen, dass besonders Technologien erfolgreich sind, bei denen der Kostenträger den größten Nutzen hat – die analoge Kostenübernahme scheint also sinnvoll als weiterer Schritt, um weitere Lösungen populärer zu machen.
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