Versorgungslücken in der ambulanten Primärversorgung schließen Die Zukunft ist hybrid
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Telemedizin ist das Trendthema der letzten zwei Jahre und wird auch weiterhin im Fokus der Digitaloffensive in der ambulanten Primärversorgung bleiben. Was für Patienten durchaus Vorteile bietet, braucht auch für niedergelassene Ärzte einen klaren nutzwertorientierten Ansatz.

Wir alle kennen die Schwächen des Gesundheitssystems. Besonders das Netz der hausärztlichen Primärversorgung wird immer grobmaschiger. Laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) kommen durchschnittlich 5.500 Behandlungsfälle auf eine Praxis pro Jahr. Eine Situation, die sich durch den demografischen Wandel und die steigende Zahl der chronisch Erkrankten in naher Zukunft weiter verschärfen wird.
Medizinische Unterversorgung
Schon 2020 waren etwa 3.300 Hausarztsitze unbesetzt, 30.000 Hausärzte werden bis 2035 altersbedingt ausscheiden, womit 20 Prozent der Landkreise medizinisch unterversorgt sein werden. So prognostiziert es die 2021 erschienene Studie „Gesundheitszentren in Deutschland“ der Robert-Bosch-Stiftung. Der Mangel trifft mittlerweile nicht mehr allein die ländlichen Gebiete, sondern dringt auch in die Randbezirke von Großstädten vor.
Wie aber wollen wir eine qualifizierte ambulante Grundversorgung sicherstellen? Eines jedenfalls ist klar: „Ein einfaches Weitermachen wird angesichts der zu erwartenden Entwicklungen nicht ausreichen“, heißt es im Vorwort ebendieser Studie.
Telemedizin: Innovation oder Hindernis?
Für viele liegt der Schlüssel in einer umfassenden Digitalisierung, und die Corona-Epidemie dient ihnen als Kronzeuge: Die Nutzung von Telemedizin ist innerhalb von zwei Jahren rasant gestiegen, berichtete die KBV 2021, und hat die Praxen spürbar entlastet. Dennoch sind viele Ärzte und Ärztinnen nach wie vor skeptisch. Zum Teil beruht die Haltung auf grundsätzlicher Skepsis gegenüber der Digitalisierung, aber es gibt für sie auch gute Gründe: Für Ärzte fehlt nach wie vor der Mehrwert. Sie müssen ihre Praxen gewissermaßen nebenbei digitalisieren. Doch dafür fehlt schlichtweg die Zeit.
In einer 2020 erschienenen McKinsey-Studie wird das Ausmaß deutlich: Ärzte arbeiten durchschnittlich 53 Stunden pro Woche und können sich vor Patienten oft kaum noch retten. Hinzu kommt, dass die physische Behandlung in der Praxis im Schnitt besser vergütet wird und die Digitalisierung derzeit vor allem Ärger ohne sichtbaren Nutzen mit sich bringt.
IT-Kosten
Das gilt zum einen für die monetären Aufwände: Allein von 2017 bis 2019 sind laut Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung die durchschnittlichen IT-Kosten der Praxen in der vertragsärztlichen und vertragspsychotherapeutischen Versorgung um knapp 60 Prozent gestiegen und lagen damit 2019 bei mehr als 6.000 Euro jährlich. Zum anderen spielt auch die schlechte Organisation eine Rolle: Ärzten wurde die staatlich finanzierte Telematikinfrastruktur (TI) trotz massiver Kritik „verordnet“.
Dann, kaum funktionierte die Technologie, war sie auch schon wieder veraltet. Im Herbst 2021 fiel der Beschluss, auf die so genannte Telematik-Infrastruktur 2.0 umzurüsten. Die gerade installierten Extrageräte werden damit obsolet, weil die Funktionen künftig ganz normal über das Internet zur Verfügung stehen sollen. Mindestens ebenso wichtig sind jedoch fachliche Zweifel.
Digital = gut?
Ärzte zweifeln daran, dass eine digitale Medizin wirklich eine gute Medizin ist. Denn Videosprechstunden allein lösen nur einen Teil des Problems. Sie bilden keine ganzheitliche Patienten-Journey ab. Für Nutzer geht der Kampf um einen Termin in einer naheliegenden Arztpraxis von vorn los, sobald sie telemedizinisch nicht ausreichend behandelt werden können. Und Mediziner verlieren ihre Patientinnen und Patienten aus dem Blick, sobald die Videosprechstunde vorbei ist. Sie wissen nicht, ob die Diagnose korrekt war, ob die Therapie geholfen hat oder ob sie tatsächlich wie empfohlen eine Arztpraxis aufgesucht haben.
Versorgungskonzept
Diese Lücke zwischen digitaler und physischer Betreuung müssen wir füllen, soll die Telemedizin tatsächlich ihr Versprechen einlösen und die Gesundheitsversorgung sichern. Wir brauchen ein System, das digitale und physische Medizin eng miteinander verzahnt.
In Schweden ist ein derartiges hybrides Gesundheitsmodell bereits implementiert. Das in Schweden seit 2017 erprobte Gesundheitskonzept von Doktor.se wird bereits von mehr als einer Million Schweden genutzt. Das sind rund zehn Prozent der schwedischen Bevölkerung.
Die Videosprechstunde als Erstvisite entlastet Arztpraxen vor Ort, senkt den Andrang von Patienten und ermöglicht den dortigen Allgemeinmedizinern eine physische Visite für die wirklich notwendigen Behandlungsfälle. So können Patienten mit Bagatellerkrankungen unter anderem während Grippe- und Pandemiezeiten effizient digital versorgt werden.
Der flächendeckende Einsatz durchdachter digitaler Lösungen kann nicht nur viel Geld sparen – bis zu 5,7 Milliarden Euro allein durch Telemedizin beziffert McKinsey das Einsparpotential –, sondern auch Zeit: Durchschnittlich zehn Minuten gewinnen Ärzte pro Patient, weil das medizinische Personal bei administrativen Aufgaben unterstützt wird, die bürokratischen Aufwände sinken. Damit bleibt mehr Zeit für Patienten.
Hybrides Modell als mögliche Lösung
Der hybride Ansatz wirkt also in beide Richtungen: Für Patienten vereinfacht er den Zugang zum Gesundheitssystem, weil lange Wartezeiten und unnötige Wege wegfallen. Er wird einem Patienten gerecht, der ein anderer ist als noch vor wenigen Jahren: anspruchsvoll, gut informiert, mit Digitalkompetenz und dem Wunsch, dass medizinische Versorgung genauso unkompliziert konsumierbar ist wie das Bestellen von Büchern über Amazon – überall und zu jeder Zeit und das auf einem hohen medizinischen Niveau.
Und für Ärzte und Ärztinnen bietet das digiphysische Modell die Möglichkeit, ihre Praxisabläufe – Zeitmanagement, Sprechstundenplanung, Abrechnungsmanagement – zu optimieren, Personal zu entlasten und Patienten besser zu betreuen. Das zusätzliche eHealth-Angebot, das Patienten eine orts- und zeitunabhängige Behandlungsoption bietet, steigert außerdem die Attraktivität der Praxis.
Arbeitsbedingungen
Der Einsatz digitaler Lösungen kann zudem neue, attraktive Arbeitsbedingungen für Ärzte schaffen: Zukünftig könnten auch Mediziner im Home-Office und in Teilzeit flexibel arbeiten und damit Beruf und Familie besser vereinbaren. Das macht die sichtbar eingestaubten Arbeitsbedingungen für Ärzte auch für den Nachwuchs wieder attraktiver. Dann dürften auch die vielen Initiativen zünden, die junge Ärzte für die Allgemeinmedizin begeistern wollen.
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Von Herkulesaufgaben und Visionen
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