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Die Ärzte ins Boot holen
Dennoch sieht die Barmer eher die Ärzte in der Pflicht: In drei unterschiedlichen Projekten hat sich die Krankenkasse dem Thema Polymedikation gewidmet. Das erste Projekt – AdAM, kurz für „Anwendung für ein digital unterstütztes Arzneimitteltherapie-Management“ – wurde von Juli 2017 bis Juni 2021 zusammen mit der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe erprobt. „Wir zeigen mit AdAM erstmals, dass die Nutzung von Routinedaten der Krankenkassen zur Behandlungsunterstützung und die elektronisch unterstützte Prüfung auf vermeidbare Risiken Ärzten eine bessere Behandlung ihrer Patienten ermöglichen“, erklärt Straub. Mit dem Einverständnis der Patienten erhielten Hausärzte dafür umfassenden Zugriff auf dessen Vorgeschichte – und damit auch auf Vorerkrankungen und Medikation. Gleichzeitig werden dem Arzt Hinweise zu vermeidbaren Risiken der Therapie, etwa Wechselwirkungen, angezeigt. Bei flächendeckender Anwendung durch die niedergelassenen Ärzte könne AdAM jährlich etwa 65.000 bis 70.000 Todesfälle bundesweit vermeiden, so Straub.
Weitere Probleme entstehen hingegen bei der Krankenhausaufnahme. „Ohne vollständige Kenntnis der aktuellen Medikation wird die Arzneimitteltherapie zu einem unkalkulierbaren Risiko“, erklärt Prof. med. Daniel Grandt, Chefarzt am Klinikum Saarbrücken. Für ihn sei es daher unverständlich, dass bisher nicht gewährleistet ist, dass entsprechende Informationen zur Verfügung stehen. Das zweite Projekt TOP rückt daher diese Problematik in den Fokus und setzt dabei auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den Krankenhausapotheken sowie den behandelnden Ärzten. Sie erhalten, um sich einen Überblick über die Gesundheitshistorie des Patienten zu verschaffen, die Abrechnungsdaten von der Barmer. „Krankenkassendaten sind so offensichtlich nutzenstiftend und zudem zeitsparend für das Krankenhaus, dass TOP ohne Zeitverzug in die Routineversorgung überführt werden sollte“, ist sich Straub sicher.
Das dritte Projekt im Bunde, eRIKA, kurz für „eRezept als Element interprofessioneller Versorgungspfade für kontinuierliche Arzneimitteltherapiesicherheit“, ist erst im Oktober 2022 angelaufen. Aufbauend auf dem eRezept-Prozess sollen Ärzte und Apotheker demnach bei der Medikation digital unterstützt werden. Zum Verordnungszeitpunkt wird der behandelnde Arzt dann etwa über die Gesamtmedikation des Patienten informiert und bei der ATMS-Prüfung unterstützt. Aber auch Patienten profitieren von dem Projekt: Sie erhalten über eine App immer den aktuellsten Medikationsplan. Die verordneten Arzneimittel werden bei der Abgabe in der Apotheke inklusive Chargennummer zentral dokumentiert, sodass bei chargenspezifischen Risikosignalen betroffene Patienten schnell identifiziert und geschützt werden können. Ziel sei es, einen Prozess zu entwickeln, der die Telematikinfrastruktur nutzt, um die Patientensicherheit zu gewährleisten.
Das Potenzial nutzbar machen
Die Projekte haben Potenzial, setzen an wichtigen Stellen an. Doch egal, ob im Gesundheitswesen oder der Verwaltungsdigitalisierung, immer wieder sieht man, wie entsprechende Leuchtturmprojekte genau das bleiben: Leuchttürme, fest verankert an einem Ort und nicht in der Lage, ganz Deutschland zu erhellen.
„Im Gesundheitssystem steht eben nicht der Patient im Vordergrund, sondern ganz andere Interessen. Manche – nicht nur die Politik, auch die anderen Stakeholder, die hier mitreden dürfen – haben aus den Augen verloren, für was sie tätig sind und wer sie bezahlt. Es geht häufig nur darum, Finanzen und Interessen zu wahren, der Patient wird leider oft aus dem Fokus verloren“, schätzt Meyer-Philippi die aktuelle Lage ein. Hinzu käme das Thema Datenschutz. „Der Datenschutz ist das Schreckgespenst, das durch jedes Wohnzimmer gejagt wird – und häufig nur ein Vorwand ist, um etwas zu blockieren.“ Beim Online-Banking gebe es damit schließlich auch keine Probleme, ein Arztbrief könne nicht online verschickt werden?
Für ihn ist daher eine vernünftige Digitalstrategie für den Wandel des Gesundheitswesens entscheidend: „Das heißt in dem Fall für mich nicht, dass man auch im letzten Eck Handyempfang mit 5G hat. Die Digitalstrategie braucht einen Nutzen für die Menschen“, stellt er klar. „Von den eRezepten, die in diesem Jahr ausgestellt wurden, sind 80 Prozent auf Papier gedruckt. Das ist keine Digitalisierung.“
„Ich finde, es führt zu Missverständnissen, Digitalisierung auf eine rein papierlose Praxis zu reduzieren. Digitaltechnik umfasst schon heute zahlreiche Möglichkeiten zur verbesserten Patientenversorgung und -sicherheit sowie Reduktion von Barrieren“, meint Dr. Marvin Schwarz, Kardiologe aus Schwandorf. Seiner Meinung nach blieben viele Chancen ungenutzt, die aktuelle Probleme wirksam anzugehen. Das könnte laut dem aktuellen Praxisbarometer der KBV auch an der Fehleranfälligkeit der Anwendungen liegen:
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KBV-Praxisbarometer
Technische Probleme hemmen die Digitalisierung
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