Deutscher eHealth-Markt weiter auf Wachstumskurs
Das Gesundheitswesen steht im Zuge der Digitalisierung vor einschneidenden Umbrüchen. Das bringt Chancen für alle Akteure, stellt aber auch Politik und Verwaltungen vor größte Herausforderungen.

Seien Sie ehrlich: Hätte Ihr Hausarzt Ihnen vor Covid-19 einen Videochat oder eine digitale Übermittlung ihrer Gesundheitsdaten vorgeschlagen – Sie hätten vermutlich den Arzt gewechselt. Heute würden Sie es mit großer Wahrscheinlichkeit wohl begrüßen, nicht in sein Wartezimmer gebeten zu werden und sich nicht einer möglichen Infektion aussetzen zu müssen. Und so wie Ihnen ergeht es vielen Patienten rund um den Globus. Auch wenn diese stürmische Entwicklung nicht allein auf Corona zurückzuführen ist, sondern ebenso auf die zahlreichen neuen Gesetze, welche die Digitalisierung im Gesundheitswesen nicht nur fördern, sondern auch fordern, so sind die positiven wirtschaftlichen Folgen für die Entwicklung des digitalen Gesundheitsmarkts bereits erkennbar. Denn dieser hat in den vergangenen zwei Jahren merklich Fahrt aufgenommen. Das zeigt unter anderem eine Untersuchung des Marktforschungs- und Beratungsunternehmens Roland Berger aus dem vergangenen Jahr. In der Studie mit dem Namen „Future of Health 2 – The rise of healthcare platforms“, für die weltweit rund 500 Experten befragt wurden, kommen die Autoren zu dem Schluss, dass sich das Wachstum des digitalen Gesundheitsmarkts in Europa bis zum Jahr 2025 vermutlich auf 232 Milliarden Euro erhöhen wird. Das ist ein Plus von fast 50 Prozent.
Und auch für Deutschland sind die Prognosen beeindruckend. Hier schätzen die Analysten das zu erwartende Marktvolumen auf 57 Milliarden Euro. Die Autoren der Studie gehen weiter davon aus, dass die Pandemie den Digitalisierungsprozess der Branche insgesamt um rund zwei Jahre beschleunigt hat. Diese Beschleunigung und Aufbruchstimmung ist überall spürbar (Lesen Sie dazu auch das Interview auf Seite 12). Symptomatisch ist dafür zum Beispiel die aktuelle Forderung des Sachverständigenrates des Bundesgesundheitsministeriums. Dieser hat nämlich im Juni auf einem digitalen Symposion ein Gesetz zur besseren Nutzung von Gesundheitsdaten gefordert. Das Gesetz solle zum einen sicherstellen, dass Gesundheitsdaten besser als bisher zum Schutz von Leben und Gesundheit verwendet werden, heißt es dazu vom Sachverständigenrat. Und zugleich soll der Missbrauch von Daten durch höhere technische Datensicherheit und härtere Strafen verhindert werden. Erreicht werden könnten diese Ziele nach Ansicht des Rates durch die grundsätzliche Einrichtung einer elektronischen Patientenakte (ePA) für alle Bundesbürger (mehr zum Hintergrund finden Sie auf Seite 16). Dazu erklärte der Vorsitzende des Sachverständigenrats, Prof. Dr. med. Ferdinand Gerlach: „Der Rat hält ein Umdenken in Sachen Digitalisierung für dringend geboten. Die Erfahrungen in anderen EU-Staaten zeigen, welche Vorteile für das Patientenwohl aus ähnlichen Regelungen entstehen können, wie wir sie vorschlagen. Der Schutz von Daten darf nicht länger losgelöst, ja getrennt werden von Leben und Gesundheit der Menschen, zu denen die Daten gehören. In Politik und Gesellschaft sollte hierüber offen diskutiert werden. Datenschutz ist nicht nur als Recht auf Schutz vor Datenmissbrauch zu verstehen, sondern vor allem als Recht auf verantwortliche Datenverarbeitung – zum Wohle des einzelnen wie aller Patientinnen und Patienten.“
Die Konzepte von Datensparsamkeit und unmittelbarer Zweckbindung wie sie bislang vertreten würden, seien lebensfremd, irreführend und manchmal sogar schädlich. Datensicherheit, technisch und rechtlich gewährleistet, sollte zur neuen Norm werden, so Gerlach in seinem Fazit und fordert: „Die Digitalisierung des Gesundheitswesens muss daher strategisch weiterentwickelt werden.“ Inzwischen habe der Rat die Ziele und notwendigen Rahmenbedingungen dafür auch skizziert. Die EU-Datenschutzgrundverordnung ermögliche gesetzliche Regelungen, die den Menschen helfen – nicht Hilfe behindern. „Wir hoffen“, so Gerlach abschließend, „dass der neu gewählte Bundestag diese Möglichkeiten nutzt und ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz verabschiedet. Unsere Empfehlungen für eine patientenwohldienliche Digitalisierung der Gesundheitsversorgung liefern eine Blaupause.“
Die Digitalisierung im Gesundheitswesen schätzt man beim Branchenverband Bitkom übrigens ganz ähnlich ein. In einem aktuellen Positionspapier, das zusammen mit anderen Verbänden erarbeitet wurde, heißt es dazu: „Seit drei Jahren ist Bewegung beim Thema eHealth: Mit dem Digitale‐Versorgung‐Gesetz (DVG; 2019), dem Patientendaten‐Schutz‐Gesetz (PDSG), dem Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG; beide 2020) sowie dem Digitale‐Versorgung‐und‐Pflege‐Modernisierung‐Gesetz (DVPMG) von diesem Jahr wurden wichtige Grundsteine für die Digitalisierung der deutschen Gesundheitsversorgung gelegt. Der jahrelange Stillstand in vernachlässigten Themenbereichen ist beendet. Erste Schritte zur Verbesserung sind getan. Neben dem politischen Willen zur Veränderung ist dies nicht zuletzt Ergebnis des Innovationsdrucks im Gesundheitswesen und des Engagements der Gesundheitswirtschaft.“ Allerdings sei das Ziel, die Schaffung eines nachhaltigen, modernen und vernetzten Gesundheitswesens, noch weit entfernt, heißt es im Positionspapier. Auffällig dabei ist, dass die Probleme im Zusammenhang mit der Digitalisierung im Gesundheitswesen denen der im eGovernment gleichen. Hier wie dort stehen Fragen der Interoperabilität, des Cloud Computings, des Datenschutzes und – nicht zuletzt – die Überwindung einer gewissen föderalen Zersplitterung im Mittelpunkt der Diskussionen. Unter anderem formuliert das Positionspapier: „Um den Gesundheitsstandort Deutschland langfristig zukunftsfähig aufzustellen, sollte zudem ein Mechanismus etabliert werden, der die Digitalisierung sektorenübergreifend vergleichbar macht und den Akteuren des Gesundheitswesens noch nicht ausgeschöpfte Potenziale aufzeigt. Im klinischen Bereich ist die Messung und Zertifizierung des digitalen Reifegrads bereits bekannt und bringt reale Mehrwerte für Patienten und Krankenhausbetreiber hervor. Vergleichbare Modelle könnten auch in anderen Bereichen der Versorgung etabliert werden.“ Zudem sei es wichtig, die Gesundheitswirtschaft, da der deutsche Forschungs‐ und Produktionsstandort innerhalb der EU zunehmend an Bedeutung gewinne, bei länderübergreifenden Projekten zur Digitalisierung der Gesundheitsversorgung wie dem European Health Data Space und Gaia‐X einzubinden.
Insbesondere sind die Potenziale, die durch die Weiterentwicklung und Nutzung von Cloud Computing, von Machine Learning, beziehungsweise Künstlicher Intelligenz (KI), Telemedizin und ‐monitoring und von weiteren innovativen Technologien realisiert werden könnten, laut Bitkom massiv und stellten damit einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg zu einer zukunftsorientierten, modernen und patientenzentrierten Versorgung dar.
Cloud Computing und Storage ermöglichen als dezentrale Speicher‐ und Verarbeitungslösung für sensible Gesundheitsdaten die direkte und kontrollierbare Nutzbarkeit relevanter Gesundheitsdaten und hätten das Potenzial, verschiedene Institutionen, Einrichtungen und Anwender effizient miteinander zu vernetzen. Dazu merken die Autoren an: „Hier können sowohl Synergien auf Bund‐, Länder‐ und kommunaler Ebene realisiert werden, zum Beispiel durch die trägerübergreifende Nutzung von Cloud‐Lösungen im klinischen Bereich), als auch supranational durch die Vernetzung verschiedener Gesundheitssysteme und die Schaffung gemeinsamer Gesundheitsdatenräume.“ Durch die flächendeckende Nutzung von Cloud‐Infrastrukturen könne darüber hinaus das Datenschutz‐ und Datensicherheitsniveau bei den Institutionen professionalisiert und erhöht werden. Dies beinhalte die Implementierung effizienter und kontrollierter treuhänderischer Modelle für Datennutzung. Zudem ließen sich durch Skalierungseffekte deutliche Reduktionen von Kosten und ökologischen Fußabdrücken realisieren. Um die hier aus Platzgründen nur kurz angerissenen Probleme zu beseitigen und ein modernes, konkurrenzfähiges Gesundheitssystem zu schaffen, schlagen die Autoren unter anderem folgende Maßnahmen vor:
- Schaffung eines einheitlichen und zukunftsfähigen Gesetzesrahmens der deutschen Gesundheitsgesetzgebung.
- Förderung der Digitalisierung des Gesundheitswesens durch neue Finanzierungsinitiativen und ‐programme.
- Klares Bekenntnis zur transparenten und sicheren Nutzung von Gesundheitsdaten und den daraus resultierenden Möglichkeiten.
- Förderung und Etablierung innovativer Technologien wie Telemedizin, Cloud Computing und Anwendungen Künstlicher Intelligenz für die Gesundheitsversorgung.
- Etablierung einer durchführbaren und zielgerichteten Roadmap zur regelmäßigen Weiterentwicklung der Telematikinfrastruktur unter Einbindung aller Akteure des Gesundheitswesens.
- Einführung von sektorenübergreifenden Modellen zur Messung des digitalen Reifegrads im Gesundheitswesen.
- Sicherstellung der Interoperabilität im Gesundheitswesen unter Beteiligung aller Akteure.
Auch in Zukunft wird die Gesundheitsbranche also aus IT-wirtschaftlicher und -technischer Sicht eines der spannendsten Gebiete im Zuge der Digitalisierung bleiben. Nicht nur für Anbieter und Unternehmen, sondern auch für die Stakeholder im Gesundheitswesen und in der Politik – und natürlich nicht zuletzt für die Patienten selbst. Es lohnt sich also, am Ball zu bleiben.
Dieser Beitrag erschien zuerst in unserem Sonderheft Healthcare Digital. Dort finden Sie auch weitere spannende Artikel zur Entwicklung von eHealth.
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