Medical Device Regulation Was bedeutet die neue EU-Richtlinie für den Medizinproduktemarkt?

Von Maciej Piwowarczyk vel Dabrowski* |

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Kaum ein Thema wird in der Medizintechnikbranche derzeit so heiß diskutiert wie die sich neigende Übergangsfrist der neuen Medical Device Regulation: Ab Mai 2021 die Voraussetzungen für die Verkehrsfähigkeit von Produkten auf dem europäischen Markt.

Auch Wearables können von der neuen Medical Device Regulation betroffen sein.
Auch Wearables können von der neuen Medical Device Regulation betroffen sein.
(© ra2 studio - stock.adobe.com)

Am 5. April 2017 verabschiedete das Europäische Parlament die EU-Medizinprodukteverordnung 2017/745 – besser bekannt als Medical Device Regulation, kurz MDR. Kaum zwei Monate später trat die EU-Verordnung am 25. Mai 2017 mit einer regulären Übergangsfrist von drei Jahren in Kraft. Im Unterschied zur Vorgängerrichtlinie 93/42/EWG besitzt die MDR unmittelbare Gültigkeit und muss von den Mitgliedsstaaten nicht erst durch eigene Gesetze in nationales Recht umgesetzt werden. Durch ein kürzlich beschlossenes Korrigendum gilt die Verordnung ab dem 26. Mai 2021. Zeitgleich tritt das Medizinproduktedurchführungsgesetz (MPDG) in Kraft, welches das deutsche Medizinproduktegesetz ablöst und an die MDR anpasst. Während ursprünglich beide Gesetze 2020 in Kraft treten sollten, wurden beide Verordnungen aufgrund der Corona-Pandemie um ein Jahr verschoben.

Höhere Anforderungen in puncto Sicherheit und Qualität

Die neue Verordnung hängt die Messlatte für das Inverkehrbringen medizintechnischer Produkte im Vergleich zur früheren Regelung ein gutes Stück höher. Dabei umfasst der Begriff eines medizintechnischen Geräts im Sinne der MDR prinzipiell alle Produkte, die für einen irgendwie gearteten medizinisch-therapeutischen Gebrauch geeignet sind. Außer Hardware-Lösungen zählen dazu unter Umständen auch Fitness-Armbänder oder reine Softwareanwendungen wie etwa eine Gesundheits-App. Im Gegensatz zu anderen gesetzlichen Regelungen spielt die Unternehmensgröße für MDR keine Rolle. Betroffen sind folglich nicht nur etablierte Hersteller, sondern ebenso zahlreiche Startups sowie gegebenenfalls Entwickler von Fitness- und Gesundheits-Angeboten.

Die erhöhten Sicherheits- und Qualitätsanforderungen der MDR, die durch Anpassungen im deutschen Medizinproduktegesetz (MPG) noch ergänzt und präzisiert wurden, führen dazu, dass sich künftig deutlich mehr Anbieter als bisher einem Audit unterziehen müssen. Für viele Unternehmen bedeutet dies zusätzliche Kosten für die Auditierung. Zum einen ist das dadurch begründet, dass gemäß der MDR mehr Kriterien abgeprüft werden. Zum anderen ist es zu einem Mangel an freien Audit-Kapazitäten gekommen, da die MDR eine sehr aufwändige Rezertifizierung der Auditoren oder der benannten Stellen selbst voraussetzt. Zu guter Letzt ist kurz vor dem Inkrafttreten der neuen Verordnung naturgemäß die Nachfrage durch die Hersteller gestiegen.

Externe Unterstützung versus interne Konformitätsabwägung

Die Änderungen, die mit der MDR in Kraft treten, beziehen sich nicht nur auf Sicherheits- und Leistungsanforderungen für bestimmte Produkte und Produktgruppen. Vielmehr umfasst die Neuregelung auch eine grundlegend überarbeitete Klassifizierung von Medizinprodukten. Dies führt dazu, dass wesentlich mehr Produkte und Herstellungsprozesse einem Konformitätsbewertungsverfahren unterzogen werden müssen. Davon betroffen sind auch Hersteller sogenannter Klasse-I-Produkte nach der noch geltenden alten Gesetzgebung – was laut Branchenverband BVMed immerhin 64 Prozent aller am Markt vertriebenen Medizinprodukte betrifft. Für viele dieser Klasse-I-Produkte konnten die Hersteller bisher eigenständig eine Konformitätserklärung ausstellen. Bei einer Hochstufung in Klasse IIa oder höher wird nun eine Konformitätsbewertung unter Mitwirkung einer benannten Stelle notwendig. Dafür wiederum ist ein Qualitätsmanagementsystem erforderlich, das seinerseits von der benannten Stelle überprüft werden muss. So gesehen kommt auf die betroffenen Hersteller eine doppelte Auditierung zu, die von den benannten Stellen in der Regel nur in Kombination angeboten wird. Für alle Hersteller gelten überdies zusätzliche Marktbeobachtungs- und Meldepflichten sowie erhöhte Anforderungen an die Produktentwicklung. Auch im Entwicklungsprozess, also schon vor dem Inverkehrbringen eines Produkts, rücken die klinische Bewertung sowie Wirksamkeits- und Nutzennachweise weiter in den Fokus.

Aufgrund der zahlreichen Gesetzesänderungen in den letzten Monaten – allein die MDR wurde durch drei Korrigenda in der letzten Zeit geändert – ist die Lage und die Anforderungsermittlung komplex geworden, insbesondere in Deutschland. Doch welcher Handlungsbedarf ergibt sich im Einzelfall konkret? Eben diese Frage umschreibt die Herausforderung, vor der die meisten Unternehmen der Medizintechnikbranche derzeit stehen. Valide beantworten lässt sie sich nur mit entsprechender Expertise, weshalb Hersteller unabhängig von ihrer Größe vermehrt Beratungs- und Schulungsangebote in Anspruch nehmen. Besonders schwierig ist die Lage für kleinere Hersteller, welche damit vor größere finanzielle Hürden gestellt werden. Alternativ können Unternehmen die komplexen Gesetzestexte selbstverständlich auch auf eigene Faust lesen und interpretieren – was allerdings die Gefahr von Missverständnissen und Fehldeutungen in sich birgt. Professionelle Anleitung schließt dieses Risiko aus und hilft nicht zuletzt auch, Zeit und Ressourcen einzusparen.

Unscharfe Grenze zwischen Consumer- und Medizinprodukt

Manches Unternehmen wird überrascht sein, dass sein Portfolio überhaupt in den Geltungsbereich der MDR fällt. Was vom Hersteller als reines Consumer-Produkt gedacht war, kann mit einem medizinisch-therapeutischen Kontext als Medizinprodukt eingestuft werden. Hält sich der Hersteller dabei nicht an die MDR, drohen unter Umständen horrende Strafen.

Ob zum Beispiel ein internetfähiges Wearable, das Vitalfunktionen wie Puls und Blutdruck misst, oder eine Pill-Reminder-App, die an die Medikamenteneinnahme erinnert, als Medizin- oder Consumer-Produkt gilt – diese Frage lässt sich pauschal nicht beantworten. Die MDR sowie die frühere Gesetzgebung liefern keine eindeutige Präzisierung. Wo die Grenze konkret verläuft, hängt vom Funktionsumfang und den Anwendungsbereichen des jeweiligen Angebots ab. Ohne Weiteres erfüllen beispielsweise manche Fitness-Tracker die Kriterien eines Medizinprodukts. Liefert die Lösung darüber hinaus auch diagnostisch verwendbare Informationen, kann sie gemäß MDR sogar einer höheren Risikoklasse zuzuordnen sein. Wer sich unschlüssig ist, ob seine Produkte der MDR unterliegen oder nicht, sollte sich schnellstmöglich um Unterstützung bemühen, um drohende Strafen zu vermeiden.

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Gesteigerte Anforderungen führen zu Mehrkosten

Die Verschärfung der Klassifizierungsregeln bringt auch gesteigerte Kosten für die Zulassung mit sich. Je nach Firmengröße und Produktkomplexität werden die Zulassungskosten für Klasse IIa Produkte von diversen Quellen auf mindestens 100.000 Euro geschätzt. Bedenkt man, dass die meisten Health-Tech-Startups nach der alten Gesetzgebung in der Klasse I verortet wurden, verzehnfachen sich die Kosten durch die Verschärfung der MDR. Nun können Hersteller – insbesondere Startups – ihr Produkt so gestalten, dass sie gerade nicht in die höheren Klassen fallen. Die meisten Innovationen zeichnen sich jedoch gerade dadurch aus, dass sie Prozesse optimieren und bei der Diagnose helfen. Vor allem letzteres führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Höherstufung. Um dieser Problematik vorzubeugen hat das BMG Anfang des Jahres das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) auf den Weg gebracht. Hierbei wurde mit Gültigkeit ab 01.01.2020 ein neues Vergütungsmodell speziell für Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGa) geschaffen. Dieses verpflichtet die Hersteller zu Interoperabilität und aufwändigen Nutzennachweisen, lockt jedoch mit der direkten Abrechenbarkeit im deutschen Gesundheitswesen. Inwieweit das DVG die Markteintrittshürden senken kann, wird sich in den nächsten Monaten und Jahren zeigen.

Maciej Piwowarczyk vel Dabrowski, Fraunhofer Institut für Offene Kommunikationssysteme FOKUS
Maciej Piwowarczyk vel Dabrowski, Fraunhofer Institut für Offene Kommunikationssysteme FOKUS
(Bild: Fraunhofer Institut für Offene Kommunikationssysteme FOKUS)

*Der Autor, Maciej Piwowarczyk vel Dabrowski, ist beim Fraunhofer Institut für Offene Kommunikationssysteme FOKUS im Geschäftsbereich „ESPRI – Vernetzte Sicherheit“ tätig.

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